Mehr als 2 Jahre nach dem ersten Lockdown und mehr als ein Jahr nach dem entsprechenden Parlamentsbeschluss wurde am 1. Juli nun endlich der Bericht des Sachverständigenausschusses vorgelegt, der die von Bundes- und Landesregierungen verhängten Maßnahmen wissenschaftlich evaluieren sollte.
Das Gremium bestand zu Beginn aus 18 Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen, die ihrer Aufgabe ehrenamtlich nachgekommen sind. 9 Mitglieder wurden von den Bundestagsfraktionen vorgeschlagen (Union 3, SPD 2, Grüne, Linke, FDP, AfD je 1), 9 Mitglieder wurden vom Gesundheitsministerium unter der Führung von Jens Spahn besetzt. Vermehrt vertreten waren vor allem Juristen und verschiedene Vertreter aus Gesundheitswesen und -forschung, von der Psychologie bis zur Virologie. Auch ein Ökonom und eine Soziologin gehörten zum Ausschuss.
Die bekanntesten Namen dürften die beiden Virologen Christian Drosten und Hendrik Streeck sein. Drosten war als enger Berater der Bundesregierung lange das Gesicht der deutschen Coronapolitik. Aber auch Hendrik Streeck war mit seiner „Heinsberg-Studie“ früh in den Schlagzeilen und wurde im Frühjahr 2020 in den Medien als ein Gegenspieler Drostens dargestellt, der für eine schnellere Lockerung von Maßnahmen eintrat. Man kann über die letzten zwei Jahre die Positionierung Streecks wohl als insgesamt liberaler einordnen, jedoch sollte dabei nicht übersehen werden, dass auch Streeck einen Lockdown Anfang 2021 als in der damaligen Situation alternativlos beschrieben hat.
Nachdem die Frist für den Evaluierungsbericht zunächst von Ende 2021 auf Ende Juni 2022 verschoben wurde, irritierte Gesundheitsminister Karl Lauterbach die Evaluierer noch im April 2021 mit der Aussage, dass eine Verlängerung der Frist oder sogar eine neue Ausschreibung beschlossen würde. Einige Beobachter mutmaßten, Lauterbach könnte die Bewertung der Maßnahmen absichtlich verzögern wollen, da sie nicht in seinem Sinne ausfallen würden. Christian Drosten, Lauterbachs Kamerad im „Team Vorsicht“ verließ den Sachverständigenrat wenige Tage später mit der Begründung, dass Ausstattung und Zusammensetzung nicht zuließen, eine wissenschaftlich hochwertige Evaluierung durchzuführen. Die Vermutung liegt nahe, dass auch für Drostens Rückzug inhaltliche Differenzen eine Rolle gespielt haben könnten, denn der Bericht liest sich keinesfalls wie ein Loblied auf die restriktive Politik, die Drosten und Lauterbach zuvorderst vertreten haben.
Erster Eindruck und erste Reaktionen
Insgesamt liest sich der Bericht aus meiner Sicht überraschend ausgewogen. Schon im ersten Absatz wird nicht nur festgestellt, dass die Coronamaßnahmen das Ziel hatten „die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen und eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden“, sondern es wird auch anerkannt, dass die Maßnahmen „teilweise erheblich in den Alltag und die Grundrechte der Bevölkerung eingegriffen haben.“ Es werden mögliche positive und negative Wirkungen sämtlicher getroffener Maßnahmen gleichermaßen benannt. An den meisten Stellen vermeidet es der Bericht unter Hinweis auf die unzureichende Evidenz, klare Wertungen vorzunehmen. Als Maßnahmengegner stimmt mich der Bericht insofern zuversichtlich, als dass die Wirksamkeit vieler Maßnahmen von in der gesellschaftlichen Mitte anerkannten, öffentlich eingesetzten Experten deutlicher hinterfragt wird als ich das bisher je wahrgenommen habe. Auch wenn der Bericht an einigen Stellen für die Zukunft eine liberalere Politik vorschlägt, werden möglicherweise wirkungslose Restriktionen keinesfalls rückwirkend verurteilt. Dabei ist selbstverständlich klar, dass das Fehlen von Wirksamkeitsnachweisen kein Nachweis für das Fehlen von Wirkung ist.
Würden die Regierungen von Bund und Ländern jedoch den Evaluierungsbericht beherzigen, wäre kaum mit einem erneuten Lockdown zu rechnen und auch der Lockdown für Ungeimpfte (2G) würde vermutlich ein Thema der Vergangenheit bleiben. Gleichwohl stellen die Autoren des Evaluationsberichtes an vielen Stellen klar, dass konkrete Empfehlungen wie die Ablehnung von 2G vor dem Hintergrund der aktuell vorherrschenden Omicron-Variante getroffen werden. Insgesamt legt der Bericht im Gegensatz zur Coronapolitik der letzten zwei Jahre ein stärkeres Gewicht auf die Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Doch Lob und Kritik sind an vielen Stellen so vorsichtig formuliert wie es nur in einem Dokument vorkommt, dass einem Konsensentscheid von Wissenschaftlern und Juristen entspringt. Das leitet dazu ein, zwischen den Zeilen zu lesen, sodass sich Maßnahmengegner und -befürworter jeweils bestätigt fühlen werden.
Am Nachmittag der Veröffentlichung war dann auch die erste Überschrift, die einem bei bild.de entgegenschrie: „Zurück zu Knallhart-Regeln! Gesundheitsminister pfeifen aufs Corona-Zeugnis, Bild kennt den Herbst-Plan der Bundesländer“. Insgesamt beobachte ich schon seit einiger Zeit, dass man beim Axel Springer-Verlag lockdownkritischer geworden ist. So titelte welt.de: „Eine Generalabrechnung mit der Politik und dem RKI“. Bei der öffentlich-rechtlichen Tagesschau wurde hingegen die Unentschiedenheit des Textes betont: „Ein Gutachten mit vielen Fragezeichen: Der Sachverständigenrat hat ein Gutachten über die Wirksamkeit der Corona-Maßnahmen vorgelegt – vor allem zu Beginn waren diese demnach sinnvoll. Die Aussagekraft ihres Berichts halten aber selbst die Experten für beschränkt.“ zeit.de titelte „Was haben die Corona-Maßnahmen gebracht?“ und die sueddeutsche.de „Experten: Corona-Maßnahmen waren nur teilweise wirksam“. Bei Spiegel Online und faz.net sorgte die vermeintliche Aussagelosigkeit des Berichtes sogar dafür, dass er erst weit unten auf der Startseite, hinter einer Vielzahl anderer Meldungen erschien.
Die Debatte in der Woche nach Veröffentlichung des Berichts verlief nach bekanntem Schema. Wie es ein Kommentar in den Tagesthemen treffend zusammenfasst: „Die Maßnahmen-Gegner sagen: “Seht ihr, es ist nicht erwiesen, dass die Maßnahmen wirken.” Die Maßnahmenbefürworter sagen: “Es ist aber auch nicht erwiesen, dass sie nicht wirken.” “ Eine so geführte Debatte wird natürlich der Komplexität des Themas nicht gerecht. So haben Maßnahmengegner und -befürworter in der Regel auch sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie Maßnahmen überhaupt wirken sollen und welche positiven Wirkungen gegen welche negativen Wirkungen aufgerechnet werden können und dürfen. Dass aber positive und negative Wirkungen von Maßnahmen überhaupt endlich auf höchster Ebene hinterfragt und öffentlich diskutiert werden erscheint mir bereits als gewaltiger Fortschritt. So kritisiert der Sachverständigenrat die bisherige Kommunikationspolitik deutlich und mahnt an, dass das Zulassen kontroverser Debatten die Möglichkeiten der Pandemiebekämpfung begünstigt hätte. Karl Lauterbach hat derweil bereits angekündigt, der Bericht solle „kein Bremsklotz“ bei den Vorbereitungen auf den Herbst sein. Mit einer erneuten Verschärfung der Corona-Maßnahmen können wir also fest rechnen, aber zumindest bleibt zu hoffen, dass die Zeiten, in denen man für Kritik an Coronamaßnahmen öffentlich als Covidiot, Schwurbler, Coronaleugner oder schlimmeres angefeindet wurde langsam aber sicher vorbei sind.
Nichts genaues weiß man nicht
Die Verantwortung dafür, dass sich die Autoren an vielen Stellen nicht recht darauf festlegen können, Maßnahmen positiv oder negativ zu bewerten, tragen in ihren Augen die Regierungen. Sie kritisieren, dass eine Evaluierung von Maßnahmen erst im Nachhinein mit einiger Verzögerung erfolgt ist und dass es versäumt wurde, Maßnahmen durch eine Datenerhebung zu begleiten, die eine bessere Evaluation ermöglicht hätte. Die Kritik an der fehlenden wissenschaftlichen Begleitung der Maßnahmen fällt deutlicher aus als die Kritik an den Maßnahmen selbst. Dabei beziehen sich die Gutachter auch auf die jahrelang versäumte Pandemieplanung und ein fehlendes nationales Forschungskonzept im Bereich der öffentlichen Gesundheit. So zitieren sie aus einem Dokument aus dem Jahr 2001, in dem das Robert-Koch-Institut bereits anmahnt, die Wirksamkeit nicht-pharmazeutischer Maßnahmen im Pandemiefall besser zu erforschen. Das habe aber nicht zuletzt das RKI selbst bis heute versäumt.
Aus „Gründen der Komplexität“ behandelt die Evaluierungskommission nicht die Wirksamkeit von Impfungen und fügt an, dass dies auch die (einrichtungsbezogene) Impfpflicht einschließt. Es hätte an dieser Stelle sicherlich Berücksichtigung finden können, dass die Wirksamkeit der Impfung nicht das einzige Kriterium zur Evaluierung einer Impfpflicht ist. So oder so verweisen die Autoren stattdessen ausschließlich auf die einschlägigen Veröffentlichungen des RKI sowie der Ständigen Impfkommission (STIKO). Was sagt der Bericht also zu den weiteren Maßnahmen?
Maske: Nur freiwillig effektiv
Der Sachverständigenrat bezeichnet Masken als ein im Vergleich zu anderen Maßnahmen „vergleichbar günstiges und kosteneffektives Instrument“, das die Bevölkerung weniger einschränke als andere Maßnahmen. Die Evidenz für unerwünschte Wirkungen sei gering.
Allgemein wird in der öffentlichen Diskussion viel zu selten zwischen dem Effekt von Masken in Laborstudien, dem Effekt von Masken im Alltag und dem Effekt der Maskenpflicht entschieden. Auch der Sachverständigenrat trifft diese Unterscheidung nicht immer. Jedoch war ich überrascht, ein zentrales Argument von Gegnern der Maskenpflicht an solch prominenter Stelle wiederzufinden: „Die Problematik der Maske als Instrument zur Pandemiebekämpfung liegt aber auch darin, dass Masken nur dann wirklich wirksam sind, wenn sie von der Trägerin und vom Träger auch getragen werden wollen.“
So formulieren die Autoren zunächst einleitend in gewohnt vorsichtiger Wortwahl „dass die Erkenntnisse die Schlussfolgerung zulassen, dass das Tragen von Masken ein wirksames Mittel der Pandemiebekämpfung sein kann“. Gleich im nächsten Satz halten sie jedoch fest: „Eine schlechtsitzende und nicht eng anliegende Maske hat jedoch einen verminderten bis keinen Effekt.“ Später heißt es sogar „Eine schlechtsitzende Maske hat auch keinen, ggf. sogar einen negativen Effekt.“ Die Sachverständigen machen deutlich, dass mehr Aufklärung über das richtige Tragen von Masken Not tut, weil sich dieses eben nicht erzwingen lässt.
Merkwürdigerweise geht der Text nicht darauf ein, dass nach wie vor eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr sowie in Gesundheitseinrichtungen gilt, wenn es heißt: „Sollte eine Maskenpflicht im weiteren Verlauf dieser Pandemie oder bei zukünftigen Pandemien wieder in Erwägung gezogen werden, sollte diese auf Innenräume und Orte mit einem höheren Infektionsrisiko beschränkt bleiben.“ Ungewöhnlich deutlich kritisiert wird die Maskenflicht im Freien, die eine Maßnahme darstellte, „deren Sinnhaftigkeit zweifelhaft und/oder nicht nachvollziehbar ist“. Zudem sei eine generelle Pflicht zum Tragen von FFP2-Masken sei aus den vorliegenden Daten nicht ableitbar.
Lockdowns: eine Frage des Zeitpunkts – und „unstrittig angemessen?“
Der Begriff „Lockdown“ ist nicht klar definiert und wurde in verschiedenen regionalen und zeitlichen Kontexten sehr unterschiedlich genutzt. Im vorliegenden Bericht wird ein Lockdown als „ein Bündel von unterschiedlichen Maßnahmen von Kontaktbeschränkung verstanden“. Leider gelingt es auch dem Sachverständigenausschuss nicht, dieses Bündel genauer auseinanderzudröseln. So wird beispielsweise nicht zwischen Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen entschieden.
Wenn man wissen will, wie sich die Autoren zu – wie auch immer definierten – Lockdowns positionieren, lohnt es sich die komplette Zusammenfassung im Original zu lesen:
„Aufgrund der biologischen und physikalischen Plausibilität gibt es keinen Zweifel, dass generell die Reduktion enger physischer Kontakte zur Reduktion von Infektionen führt. Gerade zu Beginn einer Pandemie ist es sinnvoll, die Übertragung in der Bevölkerung soweit es geht zu reduzieren, um das Gesundheitssystem auf die bevorstehende Krankenlast einzustellen und um, wenn möglich, den Ausbruch lokal zu begrenzen. Wenn erst wenige Menschen infiziert sind, wirken Lockdown-Maßnahmen deutlich stärker. Je länger ein Lockdown dauert und je weniger Menschen bereit sind, die Maßnahme mitzutragen, desto geringer ist der Effekt und umso schwerer wiegen die nicht-intendierten Folgen. Die Wirksamkeit eines Lockdowns ist also in der frühen Phase des Containments am effektivsten, verliert aber den Effekt wiederum schnell.“
Dass die Reduktion enger physischer Kontakte zur Reduktion von Infektionen führt ist ein Allgemeinplatz, den wohl auch die entschiedensten Lockdowngegner kaum bestreiten würden. Die Frage ist ja, ob Lockdowns als extreme Eingriffe des Staates in die Rechte des Einzelnen effektiv, notwendig und verhältnismäßig waren. So haben Menschen auch ohne staatliche Eingriffe ihre Kontakte während der Corona-Pandemie erheblich reduziert. Zudem sind nicht alle Kontakte gleichermaßen riskant. In der Zusammenfassung wird zudem bereits benannt, dass es entscheidend ist, dass die Menschen bereit sind, Maßnahmen mitzutragen.
So fassen die Autoren Studien aus dem Ausland sowie aus Deutschland während der ersten Infektionswelle zusammen, wonach die Wendepunkte im Infektionsgeschehen oft eben nicht mit der Einführung bestimmter (Lockdown-)maßnahmen zusammenfallen. Freilich halten sie dabei fest, dass es sich nicht ausschließen lässt, dass bereits die Ankündigung oder Antizipation bestimmter Maßnahmen zu Verhaltensänderungen führt. Was an dieser Stelle nicht explizit genannt wird, ist die Möglichkeit, dass Verhaltensänderungen auch durch bloße Appelle, ohne Einführung von Zwangsmaßnahmen, passiert wären.
Wenn es zudem heißt „Die Wirksamkeit eines Lockdowns ist also in der frühen Phase des Containments am effektivsten, verliert aber den Effekt wiederum schnell.“ muss man das im Zusammenhang mit den drei Phasen des Pandemieplans deuten, wie ihn das Papier hier beschreibt:
„In der ersten Phase „Containment“ geht es um die Eindämmung also die Vermeidung jeder Infektion. In der zweiten Phase „Protection“ fokussieren sich die Maßnahmen auf den Schutz vor schweren Erkrankungen sowie Tod und auf den Schutz vulnerabler Gruppen. Die dritte Phase „Mitigation“ konzentriert sich auf die Minderung weiterer Folgen. So sollen besonders schwere Krankheitsverläufe und Krankheitsspitzen mit einer Überlastung der Versorgungssysteme vermieden werden. Der Übergang von „Containment“ zu „Protection“ wird empfohlen, falls gehäuft Fälle auftreten, die nicht mehr auf bekannte Fälle zurück zuführen sind und eine Verbreitung nicht mehr zu verhindern ist. Dieser Strategiewechsel ist nicht konsequent umgesetzt worden.“
Alle Lockdowns in Deutschland wurden zu einer Phase verhängt, in der gehäuft Fälle aufgetreten sind, die nicht mehr auf bekannte Fälle zurückzuführen waren. Es überrascht daher, dass der Ausschuss an anderer Stelle behauptet, es dürfte „weitgehend unstrittig sein, den ersten Lockdown zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 als angemessen einzuordnen. Das Wissen über die Krankheit und ihre Folgen sowie über die Wirksamkeit der möglichen Schutzmaßnahmen war gering und das vermutete Schadenspotenzial äußerst hoch.“ Letzteres bezieht sich wohl auf die Krankheit, könnte sich rein syntaktisch aber genauso auf das Schadenspotenzial der Schutzmaßnahmen beziehen – eine unbeabsichtigte Steilvorlage für Lockdowngegner. Rückwirkend jedenfalls zeigt sich in Bezug auf den Verlauf der Inzidenz in Deutschland: „Insgesamt ist ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Maßnahmenstärke nicht erkennbar“.
Von Sorgen und Nöten
Zugleich sei die bislang ersichtliche Bandbreite der nicht-intendierten Wirkungen der Lockdown-Maßnahmen erheblich. Genannt wird etwa die Verschlechterung der Grundgesundheit durch verschobene medizinische Behandlungen und nicht erkannte Erkrankungen. Studien zeigten deutliche Defizite in der Vorsorge und Versorgung im Gesundheitsbereich während der Lockdowns. Schulschließungen führten zu Bildungseinbußen insbesondere bei sozial Benachteiligten. Es kam zu einer Steigerung häuslicher Gewalt. Sogar „existenzielle Nöte“ finden als nicht-intendierte Wirkung von Lockdown-Maßnahmen Erwähnung.
Die Autoren stellen fest, „dass die Pandemie erhebliche psychosoziale Auswirkungen insbesondere auf Frauen und jüngere Menschen hatte.“. Es ist nicht einfach, Effekte der Pandemie selbst und Effekte der Lockdownmaßnahmen auseinanderzurechnen. Es wird jedoch an einigen Stellen klar, dass die Evaluierer den Maßnahmen eine erhebliche Mitschuld an negativen psychosozialen Entwicklungen geben. So erklärt sich die psychologische Belastung von Müttern auch dadurch, dass sie unvorbereitet gezwungen wurden, erheblich mehr Zeit in die Kinderbetreuung zu investieren. Erwähnung findet auch etwa die deutliche Verschlechterung von depressiven Erkrankungen im Lockdown.
Der Blick ins Ausland
Als Grund dafür, dass die meisten Länder zu Lockdowns gegriffen haben, nennen die Gutachter auch das Simulationsmodell von Ferguson et al., das „auf Grundlage einer nicht qualitätsgeprüften wissenschaftlichen Publikation vorgelegt wurde und große Beachtung fand. Die Modelle sagten enorm hohe Opferzahlen durch die SARS-Cov-2 Pandemie vorher und zeigten deutlich positive Effekte von Veranstaltungsabsagen, Schul- und Geschäftsschließungen.“. Genauer gehen die Autoren nicht auf Ferguson et al. ein, aber wir wissen heute, dass sich die damals ausgemalten Schreckensszenarien in keinem Land bewahrheitet haben, ungeachtet der lokalen Politik.
Die wachsende wissenschaftliche Literatur, die die Effekte von Lockdownmaßnahmen im internationalen Vergleich bewertet, wird nicht in der Tiefe besprochen. Aussagen über die Effekte von Lockdownmaßnahmen im internationalen Vergleich zieht die Kommission im wesentlichen aus einer einzigen Studie mit Daten aus der ersten Welle (Banholzer et al.). Demzufolge waren Faktoren, die zu einem positiveren Effekt von Maßnahmen geführt haben ein hohes Bruttoinlandsprodukt, effektiv handelnde Regierungen, hohe Gesundheitsausgaben, ein niedriger Anteil älterer Menschen, eine niedrige Bevölkerungsdichte und Haushaltsgröße sowie wenig informelle Beschäftigung. Eine weitere Studie mit Daten aus der Welle (Mendez-Brito et al.) soll zeigen, dass sich Lockdowns als umso wirksamer erwiesen, wenn diese zu einem frühen Zeitpunkt durchgeführt wurden. Es bleibt jedoch unklar, inwiefern diese Beobachtung auch hinsichtlich der Wirkung nach über 2 Jahren Pandemie noch zulässig ist.
Auch globale Entwicklungen bleiben nicht unerwähnt, für die die Autoren Lockdowns als mögliche Ursache ansehen: „Geschätzte 276 Millionen Menschen weltweit, die Hunger leiden oder sich in der Gefahr einer Hungersnot befinden, geschätzte 2 Millionen Mädchen und junge Frauen, deren Genitalien beschnitten wurden und eine erdrückende Zunahme an Kinderehen sind hier in den Blick zu nehmen.“
Weitere Maßnahmen: 1G reicht
Die gemeinhin als „2G“ und „3G“ bezeichneten Maßnahmen werden im Papier weitgehend gemeinsam behandelt, obwohl ersteres den faktischen Ausschluss sogenannter „Ungeimpfter“ aus dem öffentlichen Leben bedeutete und somit einem Lockdown für diese Minderheit gleichkam. Allerdings behandeln die Sachverständigen 2G und 3G vor allem deshalb gemeinsam, weil die Wirksamkeit beider Maßnahmen kaum evaluiert werden könne. Wenigstens vor dem Hintergrund der aktuell zirkulierenden Varianten und Impfstoffe, rät die Kommission dazu, bei einer Wiedereinführung von Zugangsbeschränkungen diese als Testpflicht für alle, unabhängig vom Impfstatus, umzusetzen.
Die Kontaktnachverfolgung hält der Ausschuss in der Frühphase der Pandemie grundsätzlich für sinnvoll, stellen jedoch zur Frage, inwiefern der Nutzen dieser Maßnahme dem schlichten Anraten des Zuhausebleibens bei symptomatischer Erkrankung überwiegt.
Die Effekte von Schulschließungen auf eine Ausbreitung des Coronavirus bleiben offen. Jedoch sind Schulschließungen mit einer Zunahme psychischer und physischer Belastungen assoziiert. So werden sie mit einer Zunahme psychischer Erkrankungen sowie von Fettleibigkeit in Verbindung gebracht. Es sind wohl auch Schulschließungen gemeint, wenn es heißt: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die COVID-19-Pandemie negativ auf die Lerndauer, Lernfähigkeit und den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern ausgewirkt hat, insbesondere in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen.“
Positiv bewertet werden die wirtschaftspolitischen Eingriffe. Die Evaluierer geben eine Schätzung wieder, wonach preisbereinigte Verluste beim BIP über die Jahre 2020 und 2021 insgesamt rund 350 Millarden Euro betrugen. Zudem seien die gesamtwirtschaftlichen Investitionen rund 60 Milliarden niedriger gewesen. Schwere dauerhafte Auswirkungen auf Erwerbstätigkeit und Insolvenzen seien dennoch auch dank staatlicher Hilfen ausgeblieben.
Rechtliche Aspekte
In der juristischen Einschätzung sticht vor allem hervor, dass die „Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ sowie die damit einhergehende Verlagerung wesentlicher Entscheidungsbefugnisse auf die Exekutive „im rechtswissenschaftlichen Spektrum ganz überwiegend für verfassungswidrig gehalten“ werden. So gebe es keinen „keinen Verfassungssatz, wonach die Regeln des Grundgesetzes nur für einen – wie auch immer zu definierenden – Normalzustand gelten.“
Als besonders problematisch benennt das Papier, dass das Entscheidungszentrum bezüglich getroffener Maßnahmen lange bei der sogenannten „Bund-Länder-Runde“ gelegen habe. Dieses Gremium ist nicht bloß im Grundgesetz nicht vorgesehen, sondern es stellte auch einen „klassischen Fall einer reinen Top-down-Kommunikation“ dar, dem alles fehlte, was bei parlamentarischer Beratung selbstverständlich gewesen wäre: „der öffentliche Austausch von Argumenten, das Vortragen von Begründungen, die Gegenüberstellung kontroverser Positionen sowie die Präsentation von Alternativen“.
Durch „zahlreiche, nicht immer glückliche Änderungen und Ergänzungen“ wurde das Infektionsschutzgesetz „ohne dass ein konsistentes Gesamtkonzept zu erkennen wäre“ zu einem „recht unübersichtlichen und unsystematischen Regelungsgeflecht“. Ursprünglich sei dieses Gesetz eigentlich auf die Bewältigung punktueller Krankheitsausbrüche von begrenzter Dauer ausgelegt gewesen. Erst im Laufe der Corona-Pandemie sei es um „Rechtsgrundlagen für weitgehende Eingriffe in das gesamte gesellschaftliche Leben“ ergänzt worden, die nach der Empfehlung der Evaluierer „in Zukunft systematisiert und präziser gefasst“ werden sollen.
Konkret schlagen die Sachverständigen etwa vor, den Status des „Immunen“ ins Gesetz aufzunehmen und im Infektionsschutzgesetz festzuschreiben, dass Immune von Schutzmaßnahmen auszunehmen sind, soweit nach dem Stand der medizinischen Erkenntnisse davon auszugehen ist, dass sie nicht oder nur unwesentlich zum Infektionsgeschehen beitragen. Zudem stellen die Gutachter fest, dass eine Absonderung (also Quarantäne oder Isolation) „nach herrschender Meinung“ eigentlich nur ein Richter aussprechen dürfe. Stattdessen werden seit über zwei Jahren millionenfach Menschen von der exekutiven Gewalt zu Quarantäne oder Isolation verpflichtet. Die Gutachter regen eine Diskussion darüber an, aus diesen verfassungsrechtlichen Gründen die Absonderung durch eine in ihrer Wirkung ähnliche Maßnahme zu ersetzen, wie etwa die „Verkehrsbeschränkungen“ in Österreich. Dort dürfen Betroffene ihre Wohnung verlassen, müssen aber z.B. Veranstaltungen fernbleiben und dürfen den ÖPNV nicht nutzen.
Fazit: Further research is needed
Bei den meisten Kommentatoren überwiegt die Enttäuschung darüber, dass die Hauptaussage des Papiers zu sein scheint, dass man nichts sagen könne, weil es schlicht an belastbaren Daten fehle. Wenn man sich seit längerem mit der Frage beschäftigt, ob und wie Corona-Maßnahmen wirken, überrascht diese Aussage nicht. Zudem ist Wissenschaft immer unabgeschlossen und wissenschaftliche Stellungnahmen enden regelmäßig mit der Feststellung, dass mehr geforscht werden müsse. Die Formulierung „further research is needed“ (weitere Forschung ist nötig) hat in der Wissenschaft Meme-Charakter und sogar ihren eigenen Wikipedia-Artikel.
Natürlich sollte die Kritik an der wissenschaftlichen Begleitung der Coronapolitik ernst genommen werden. Offensichtlich besteht hier dringender Verbesserungsbedarf. Aber auch die besten epidemiologischen Daten nehmen uns keine moralischen Entscheidungen ab. So ist etwa die Datenlage in Großbritannien laut dem Sachverständigenausschuss um ein Vielfaches besser. Die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen ist dort jedoch nicht minder umstritten als in Deutschland und erst recht nicht ihre Gebotenheit. Während hierzulande „Team Vorsicht“ bis zuletzt die Nase vorne hatte, feierte man auf der Insel bereits zweimal einen „Freedom Day“. Letztlich ist die Frage, ob eine bestimmte Politik richtig oder falsch ist ja auch keine, die ein wissenschaftliches Gremium zu entscheiden hat. Selbst wenn irgendwann einmal so etwas wie ein Konsens erreicht werden sollte, dass Schulschließungen eine bestimmte Zahl von Krankenhauseinweisungen verhindert haben, kann uns das als Gesellschaft und jedem und jeder Wahlberechtigen nicht die Entscheidung abnehmen, ob es uns diese Zahl X wert ist, die psychologischen, sozialen und gesundheitlichen Folgen für Kinder, Jugendliche und Eltern in Kauf zu nehmen.
Aus meiner Sicht zeichnet sich das Sachverständigengutachten gerade dadurch aus, dass es einen Tunnelblick auf epidemiologische Kennziffern vermeidet. Wohl auch dank der multidisziplinären Besetzung finden die überwiegend negativen ökonomischen, psychologischen, gesundheitlichen und sozialen Folgen der Maßnahmen durchweg Beachtung. In Anbetracht der kritisierten Datenlage, der Komplexität der Fragen und nicht zuletzt der Diversität der Kommissionsmitglieder war ich sogar an einigen Stellen davon überrascht, wie sehr sich der Bericht festlegt. So fällt die rechtliche Beurteilung der Coronapolitik teilweise sehr deutlich negativ aus. Gleichzeitig wird der erste Lockdown als angemessen bezeichnet, was ironischerweise gerade mit dem damals schlechten Wissensstand begründet wird. Bekanntlich ist die Abwesenheit von Evidenz für etwas nicht gleichbedeutend mit der Evidenz von dessen Abwesenheit. Dass die Sachverständigen im Großen und Ganzen keine deutlichen positiven Effekte der Maßnahmen aufzeigen können, beweist also nicht deren Wirkungslosigkeit. Andererseits wäre eine wahrhaft deutliche Wirkung wohl auch bei schlechter Datenlage ersichtlich.
Aus meiner Sicht bringt der Bericht des Sachverständigenausschuss zahlreiche Argumente in die öffentliche Diskussion ein, die bisher ausschließlich oder überwiegend von Lockdownskeptikern vertreten wurden. In einem entscheidenden Punkt hätte ich mir aber eine kritischere Betrachtungsweise gewünscht: Meiner Meinung nach stünde ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat in der Bringschuld, weitreichende Grundrechtseinschränkungen im Vorfeld stichhaltig zu begründen. Der vorliegende Bericht hat einmal mehr dargestellt, dass das nicht geschehen ist. Praktisch alles, was unsere Gesellschaft ausmachte wurde im März 2020 unter Strafe gestellt, und das einzig auf der Basis von Modellrechnungen, die sich im Nachhinein als hanebüchen erwiesen haben, sowie anhand von Plausibilitätsannahmen über die Wirkung von Maßnahmen, die noch immer auf ihre empirische Bestätigung warten. Bis heute hat es keine umfassende Kosten-Nutzen-Analyse der Lockdowns gegeben, was angesichts der Tragweite der Maßnahmen kaum möglich sein dürfte. Dass dieses Vorgehen auch zwei Jahre später in einem Dokument, das etliche „nicht-intendierte Wirkungen“ der Lockdowns benennt als „weitgehend unstrittig“ angemessen erachtet wird, ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich messe mir nicht zu, eine bessere Einschätzung zur gesellschaftlichen Kosten-Nutzen-Bilanz von Lockdowns geben zu können als die Mitglieder des Sachverständigenausschusses. Aber dass die Angemessenheit des Lockdowns alles andere als unstrittig war und ist, ist eine Tatsache. Ich hoffe, das Gutachten hilft dem einen oder anderen, sich endlich dieser Tatsache zu stellen. Um mit einem weiteren Zitat aus dem Bericht zu enden:
„Abweichende Meinungen wurden in der Corona-Pandemie oft vorschnell verurteilt. Wer alternative Lösungsvorschläge und Denkansätze vorschlug, wurde nicht selten ohne ausreichenden Diskurs ins Abseits gestellt. Dabei ist eine erfolgreiche Pandemiebewältigung ohne den offenen Umgang mit Meinungsverschiedenheiten langfristig nur schwer denkbar.“